Scharf geschnitten. Vom Scherenschnitt zum Papercut

27. Januar bis 22. April 2018

Wie kaum eine andere Technik rückt der Scherenschnitt das Papier selbst in den Fokus: nicht einfach als Bildträger, sondern als Material, aus dem – mit Schere und Messer „gezeichnet“ – unmittelbar Formen und Figuren entstehen. Die Kunst besteht dabei im Weglassen: In erster Linie lebt die Technik von einer strengen Reduktion auf den Umriss der Motive. Doch bietet sie zugleich Raum für verschiedenste gestalterische Ansätze: von klaren Konturen über Dekorativ-Verspieltes bis hin zur nüchternen technischen Perfektion. Zum Auftakt Ihres 10-jährigen Jubiläums zeigt die Galerie Stihl Waiblingen die beachtliche Vielfalt von Themen und Gestaltungsformen des Scherenschnitts gestern und heute.

Ihre Blütezeit erlebte die traditionelle Technik des Papierschneidens um 1800. Was den klassischen Scherenschnitt ausmacht, veranschaulicht die Ausstellung anhand ausgewählter historischer Positionen. Im Fokus steht dabei die gebürtige Waiblingerin Luise Duttenhofer (1776 –1829). Duttenhofer, die zu Lebzeiten weit über die Region hinaus bekannt war, greift typische Themen ihrer Epoche auf. Silhouettenporträts von Freunden und bekannten Persönlichkeiten stehen neben dekorativen Blumenmotiven und einem häufig ironischen, mitunter auch kritischen Blick auf ihre Zeitgenossen. Handwerkliche Präzision verbindet sich dabei mit genauer Beobachtungsgabe und teils überraschenden Bildfindungen. Arbeiten von der Hand Luise Walthers, Philipp Otto Runges und Adolph von Menzels vervollständigen die historische Sektion der Schau. In der zeitgenössischen Kunst erlebt der Scherenschnitt in den letzten Jahren eine regelrechte Renaissance. Künstlerinnen und Künstler greifen die traditionellen Gestaltungsformen und Themen auf und interpretieren diese auf vielfältige Weise neu. So verbindet etwa die amerikanische Künstlerin Kara Walker den Rückbezug auf die historische Formensprache mit kritischem Gehalt: Ihre dekorativ anmutenden Silhouetten zeigen Szenen brutaler Gewalt, die auf Rassenunruhen in den USA verweisen. Annette Schröter wiederum spielt mit Zitaten aus gestrigen und heutigen Bildwelten.

Berühmten Gemälden Caspar David Friedrichs entlehnt sie Figuren, die nun nicht mehr auf eine idyllisch-romantische Landschaft blicken, sondern auf eine im Comicstil wiedergegebene Explosion. Aus der Street Art stammt die Schablonentechnik, die Kris Trappeniers für seine filigranen Scherenschnitt-Porträts nutzt. Feinlinig und höchst detailliert beziehen sie die Leerflächen zwischen den geschnittenen Linien effektvoll in die Gesamtwirkung mit ein und stehen so in spannungsvollem Kontrast zu historischen Porträtschnitten, die die Porträtierten als flächige schwarze Silhouetten wiedergeben. Vielfältig ist die Auseinandersetzung heutiger Künstler mit floralen Motiven. Direkten Bezug auf das historische Vorbild Philipp Otto Runges nehmen Marcel Odenbach und Olaf Nicolai: Als Collage aus Zeitungsfotos bildet Odenbach Runges dekorative Blumenmotive nach und verleiht ihnen so eine zweite, politische Sinnebene. Nicolais „Pflanzen“ dagegen sind streng symmetrische, genau kalkulierte Konstrukte, die den Gegensatz von Natürlichem und Künstlichem hinterfragen. Ein spielerisch-märchenhaftes Moment kennzeichnet die Arbeiten Zipora Rafaelovs – in komplexen Gespinsten hauchzarter ineinander verflochtener Linien verstecken sich Figuren und Alltagsgegenstände. Wild wuchernd erscheint hingegen Birgit Knoechls Installation, die den Scherenschnitt von der Fläche in den Raum überführt.

Wie sich der per se flächige Scherenschnitt um eine räumliche Dimension erweitern lässt, zeigen auch vielfältige weitere Positionen: Neben Esther Glücks streng perspektivischen Darstellungen von Körpern und Räumen stehen Georgia Russells totemartige Objekte aus zerschnittenen Büchern, während Jörg Mandernach seine Scherenschnitte mit Raumzeichnungen verbindet, die sich auf Wänden und Böden ausdehnen. Charlotte McGowan-Griffin wiederum integriert mittels Collage stereometrische Körper in eine ansonsten gänzlich flächig wiedergegebene, idyllisch anmutende Szene. Zudem erweitern Inszenierungen durch Projektionen und Trickfilme die Grenzen des Mediums. So gestaltet Katja Pfeiffer verschlungene, einander durchkreuzende Gerüststrukturen aus Pressspan, die sich erst im Schattenwurf an der Wand zu einem erkennbaren Motiv verbinden. Valentina Stanojev erweckt ihre Scherenschnitte in Animationsfilmen zum Leben, erzählt skurrile und tiefsinnige Geschichten.

Der zeitgenössische Scherenschnitt präsentiert sich damit höchst aktuell, überraschend und von beeindruckender gestalterischer Bandbreite. Aus welch reichem Erbe die heutigen Künstlerinnen und Künstler dabei schöpfen, zeigt die Zusammenschau mit historischen Werken aus der Blütezeit der Technik. Zu sehen sind hochkarätige Leihgaben, unter anderem aus dem Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin, dem Städel Museum Frankfurt a.M. und dem Musée d’Art Moderne Grand-Duc Jean Luxemburg, sowie aus privaten Galerien und dem Besitz der Künstler und Künstlerinnen selbst.