Im Rausch der Zeit. Expressionismus von Kollwitz bis Klee

4. Dezember 2020 bis 28. Februar 2021

In einer Zeit des Rausches, aber auch des Unbehagens und der Verunsicherung entsteht zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine neue Kunstform, die als expressionistisch (lat. expressio = Ausdruck) bezeichnet wird. Nicht nur die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Folgen durch den verlorenen Ersten Weltkrieg führten zu wachsender Perspektivlosigkeit, Frustration und Verwirrung. Auch neue wissenschaftliche Entdeckungen in der Physik und der Psychoanalyse brachten bisherige Selbstverständlichkeiten ins Wanken. Auswirkungen dieser zeitgeschichtlichen Situation kann man bis in den neuen Kunststil hinein wahrnehmen. Spitze Winkel und kantige Konturen sowie ein kippender wie diagonalreicher Bildaufbau bestimmen die Werke.

Es sind die tiefgreifende und vielseitige Verarbeitung der Geschehnisse und das Erstarken einer jungen Republik, welche die Grafi k des Expressionismus zu den herausragenden künstlerischen Leistungen des 20. Jahrhunderts zählen lassen. Zum Jahresende 2020 präsentiert die Galerie Stihl Waiblingen in Zusammenarbeit mit dem Institut für Kulturaustausch, Tübingen rund 100 Arbeiten von 29 verschiedenen Künstlerinnen und Künstlern aus dem reichen Bestand des Osthaus Museums Hagen. Neben bekannten Namen wie Max Beckmann, Otto Dix, Ernst Barlach, Paul Klee oder Oskar Kokoschka prägen auch bedeutende westfälische Künstler wie Wilhelm Morgner und Walther Bötticher die Sammlung. Mit einem großen Konvolut von Käthe Kollwitz rückt die Schau eine starke weibliche Perspektive in den Vordergrund. Zu sehen sind faszinierende Holzschnitte, Lithografi en und Radierungen.

Die Ausstellung spannt einen Bogen von 1893 bis 1962. So wird ein umfassender Überblick zur Entwicklung des äußerst vielfältigen Kunststils des Expressionismus vermittelt. Ein besonderer Schwerpunkt wird auf die politisch wie wirtschaftlich brisanten 1920er-Jahre gelegt. Während nur kleine Teile der Bevölkerung zur Zeit der Weimarer Republik vom ökonomischen Aufschwung durch die Hochindustrialisierung profi tierten und in den Städten die Vergnügungsindustrie boomte, hatte die große Mehrheit mit Wohnungsnot, Nahrungsmangel und Niedriglöhnen zu kämpfen. Der Expressionismus wird zum Ausdrucksmittel für Empfi ndungen und dient der Äußerung von Kritik an bestehenden gesellschaftlichen Zuständen. Er zeigt aber auch die Zurückgezogenheit und den verhaltenen Umgang mit einer Traumatisierung durch den Krieg, der oftmals in symbolischen Vergleichen mündet. Ausgangspunkt der Ausstellung ist der Mensch – als fühlendes, leidendes und hoffendes Wesen. Im ersten Bereich der Ausstellung wird ein thematischer Überblick anhand der Künstlergruppierung Brücke mit ihren wichtigsten Vertretern Erich Heckel, Ernst Ludwig Kirchner, Emil Nolde, Max Pechstein und Karl Schmidt-Rottluff gegeben. Zu den bevorzugten Brücke-Motiven zählten Aktdarstellungen, der Zirkus und das Varieté, die Großstadt, die ländliche Kulisse sowie das Porträt. Ziel war das gemeinsame Erarbeiten subjektiver Ausdrucksformen. Der zweite und der dritte Teil der Ausstellung gehen der Frage nach, wie die Künstlerinnen und Künstler auf diese spannungsvolle Zeit reagierten. Einen expressiven und kritischen Umgang fanden beispielsweise Käthe Kollwitz, Max Beckmann, Otto Dix und George Grosz. Sie arbeiteten politisch oder sozialkritisch, gaben sich ihren Emotionen hin, wirkten als nüchterne Berichterstatter oder arbeiteten aus einer inneren Notwendigkeit heraus. Einen verhaltenen Umgang mit den Geschehnissen der Zeit wählten hingegen Paul Klee, August Macke oder Alfred Kubin. Sie fanden Ausdruck in einer symbolhaften Bildsprache, fl üchteten sich in Traumwelten und deuteten den Weg zur Abstraktion an, der dann durch Wassily Kandinsky und Wilhelm Morgner seinen Höhepunkt erlangte. Zwischen Rausch und Unbehagen zeigen diese Werke, dass es sich bei den „Goldenen Zwanzigern“ um einen nachträglich geschaffenen Mythos handelt und sie an Aktualität nicht verloren haben.