Die Sommerausstellung 2013 der Galerie Stihl Waiblingen widmet sich dem künstlerischen Schaffen von Georg Baselitz. Der als Georg Kern 1938 im sächsischen Deutschbaselitz geborene Künstler feierte im Januar 2013 seinen 75. Geburtstag und zählt heute sowohl in Deutschland als auch international zu den Protagonisten der Gegenwartskunst. Die Ausstellung entstand in Kooperation mit der Stiftung Moritzburg, Kunstmuseum des Landes Sachsen-Anhalt, und präsentiert ca. 120 hochkarätige Arbeiten aus der Privatsammlung GAG. Im Fokus der Ausstellung steht das zeichnerische und druckgrafische Werk des Künstlers, ergänzt durch bedeutende Gemälde.
Mit diesem speziellen Blickwinkel fügt sich das Projekt in die Waiblinger Ausstellungsreihe zu Künstlern (u. a. Turner, Kirchner, Nolde), die vornehmlich für ihr malerisches Werk berühmt sind, jedoch parallel dazu ein hochinteressantes grafisches Œuvre schufen bzw. schaffen.
Einem breiten Kunstpublikum ist Georg Baselitz für seine auf den Kopf gestellten Bilder bekannt. Doch bereits lange zuvor beginnt er, sich mit dem traditionellen Bildbegriff auseinanderzusetzen. In Sachsen geboren und aufgewachsen, fängt der Künstler – damals noch unter seinem Geburtsnamen Georg Kern - ein Studium der Malerei an der Ostberliner Kunsthochschule an, wird jedoch bald wegen „gesellschaftspolitischer Unreife“ der Hochschule verwiesen. 1956 folgt die Übersiedelung von Ost- nach Westberlin, ein Ereignis, das sich als prägend für seinen weiteren künstlerischen Werdegang herausstellen wird. Fortan setzt er sich mit seiner eigenen künstlerischen Identität auseinander und nimmt 1961 den Namen Baselitz an, mit dem er seine enge Verbundenheit mit seinen geografi schen Wurzeln unterstreicht.
Die frühen Arbeiten Baselitz’ werden als skandalös und provozierend empfunden. Der Künstler hinterfragt die vorherrschenden Darstellungskonventionen seiner Zeit, kann sich weder mit dem in Ostdeutschland propagierten sozialistischen Realismus noch mit den in Westdeutschland vorherrschenden abstrakten Strömungen identifi zieren. In den Jahren 1961 und 1962 entstehen die zwei sog. Pandämonischen Manifeste, in denen er mit Brüchen und provokativen Grenzüberschreitungen für neue, unvorhersehbare Bildschöpfungen plädiert. Baselitz’ erste Einzelausstellung 1963 in der Berliner Galerie Werner & Katz endet mit einem Skandal – zwei Werke werden beschlagnahmt. 1965 wird das Verfahren eingestellt, die Arbeiten zurückgegeben. In dieser frühen Zeit liegt auch der
Ursprung der Privatsammlung GAG. Die passionierten Sammler erkennen das Potential des Künstlers und erwerben in der Folge bis heute zentrale Arbeiten Baselitz’. Ihre umfangreiche und hochkarätige Sammlung dokumentiert den Werdegang des Künstlers mit Konzentration auf wesentliche Einzelwerke und Werkgruppen, wobei der Schwerpunkt auf dem besonders interessanten frühen Werk Baselitz‘ liegt.
Die in Waiblingen gezeigten Exponate machen die künstlerische Entwicklung sowie die bildnerischen Hauptthemen in Baselitz’ Werk erfahrbar. Zentral ist dabei die Hinterfragung der menschlichen (v. a. männlichen) Identität in der ab 1965 entstehenden Werkgruppe Ein neuer Typ. Die dargestellte Figur des Wanderburschen ist eindeutig der Romantik entlehnt, Baselitz’ „Neuer Typ“ entbehrt jedoch aller romantischen Merk-male. Vielmehr präsentiert er sich als „verlorener Wanderer“ bzw. Antiheld und spiegelt so Baselitz’ eigene Lebensgeschichte.
Im Jahr 1966 greift der Künstler zu einem neuen Stilmittel der Verfremdung. Er beginnt, seine Motive durch Schnitte zu fragmentarisieren und neu zusammenzusetzen. Auf diese Weise bricht er die erzählerische Dominanz des Motivs. Die sogenannten Frakturbilder, die nicht länger an den Gegenstand gebunden sind, lassen sich als Übergang bzw. Vorstufe zum Umkehrakt seiner Sujets betrachten, der ab 1969 Einzug in seine Arbeiten hält. Die Verfremdung der Motive erfolgt nun durch eine 180°-Drehung, wodurch die Wahrnehmung und Lesbarkeit der Bildelemente erschwert werden. Diese Umkehrung erlaubt dem Künstler die Gegenständlichkeit weiterhin als Ausgangspunkt in seinen Arbeiten zu verwenden, indem sie durch die Verfremdung von Inhalt und Bedeutung gelöst ist.
Der Ausstellungstitel Romantiker kaputt ist ein Zitat aus der 1990 entstandenen, persönlichen Bildenzyklopädie Malelade – einem Künstlerbuch, das 41 Radierungen und Texte von Baselitz umfasst. Angeregt durch die spätantike Bilderhandschrift Physiologus von Smyrna, die existierende und sagenhafte Tiere, Pflanzen und Steine beschreibt und interpretiert, reflektiert der Künstler in Malelade die griechische Abschrift und ergänzt sie durch persönliche Erfahrungen. Der Titel kann als Kombination aus den Worten „Malerei“ und „malade“ (frz. „krank“) gedeutet werden und weist auf die Reichweite der geistigen Auseinandersetzung hin, der sich Baselitz in seinen Arbeiten immer wieder stellt. Neben dem Blick auf die künstlerische Strategie Baselitz’ und seine Hauptthemen gibt die Ausstellung einen Einblick in die beeindruckende Vielfalt der vom Künstler verwendeten Techniken: Zu sehen sind Zeichnungen unterschiedlicher Techniken (u. a. Tusche, Kohle, Aquarell), Radierungen, Holzschnitte und Linolschnitte – teilweise auch als wertvolle Probedrucke sowie malerisch überarbeitete Unikatblätter –, außerdem einzelne Gemälde. Die Zusammenschau zeigt Georg Baselitz als großen Maler und interessanten Erneuerer der Grafik, der sich intensiv mit der menschlichen Identität und dem traditionellen Bildbegriff auseinandersetzt und die Grenzen zwischen den herkömmlichen Kategorien Gemälde, Zeichnung und Grafik aufhebt.